Leben in einem unsichtbaren Rollstuhl

Soweit ich mich zurückerinnern kann, sitze ich in einem Rollstuhl, den scheinbar kaum jemand ausser mir sehen kann. Ob aufgrund dieses Umstands oder dem Gebrechen, das mich an diesen Rollstuhl bindet, hatte ich als Kind oft Todessehnsucht. Gleichzeitig habe ich mir dank dem Neid anderer auf mich und mein scheinbar beneidenswertes Leben immer wieder die vielen Ressourcen vor Augen geführt, über die ich offensichtlich verfügte. Der Gedanke, dass ich trotz meiner unsichtbaren Behinderung erfolgreich werden könnte, hat mich in einem Ausmass angetrieben, welches mich meinen Rollstuhl beinahe fast ganz vergessen liess: Ich trainierte mit derart viel Disziplin, dass ich mich mit meinen eigenen Armen aus dem Rollstuhl erheben und mit meinen individuellen Hilfsmitteln auf Augenhöhe mit anderen Menschen scheinbar uneingeschränkt fortbewegen und diese teilweise sogar überholen konnte.

Was will man bzw. Frau noch mehr? Die meisten Menschen haben wohl eher das Problem, dass Ihre Fähigkeiten von ihren Mitmenschen nicht oder zu wenig gesehen bzw. anerkannt werden. Ich surfte dagegen viele Jahre auf einer Erfolgswelle, die ich angesichts meiner erschwerten Bedingungen in vollen Zügen genossen hatte. Doch dann passierte etwas, womit ich nie in meinem Leben damit gerechnet hätte: Mein Lebenstraum von einer eigenen Familie entpuppte sich als wahrer Alptraum. Mein Kind, das ich mir so sehr von ❤️ gewünscht hatte, war kerngesund und wirklich ein kleiner Sonnenschein. Nur mit mir stimmte seit Beginn der Schwangerschaft etwas nicht mehr: Ich war plötzlich ständig krank und bereits nach wenigen Monaten war ich körperlich bereits so erschöpft, dass in mir Panik aufstieg, wie ich das nach der Geburt alles schaffen sollte. Trotzdem schien mir weder mein Mann noch mein damaliger Arbeitgeber glauben zu wollen, wie schlecht meine gesundheitliche Verfassung bereits damals schon war. Deshalb wurde ich auch immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde meine anhaltende Arbeitsunfähigkeit nur vortäuschen. Was diese Menschen jedoch verkannt hatten, war die Tatsache, dass ich mit der Geburt meiner Tochter meine beiden Arme plötzlich für mein Baby brauchte, um dieses halten und wiegen zu können. Und so weh es mir auch selbst getan hatte, wieder in meinem Rollstuhl zu sitzen und damit erneut mit meinem schon fast vergessenen Gebrechen konfrontiert zu sein, so wollte ich doch unbedingt auch für mein Baby da sein. Also versuchte ich, während der Schlafenszeit meines Kindes, die nur wenig mehr als mein Schlafbedarf betrug, wieder zu trainieren. Die Zeit war jedoch einfach zu knapp und ich u.a. wegen meines erheblichen Schlafmangels ehrlich gesagt auch zu erschöpft, um auch nur ansatzweise in die Nähe meiner vormütterlichen Armstärke zu gelangen. Mir ist relativ schnell klar geworden, dass ich unter diesen Umständen noch länger auf meinen unsichtbaren Rollstuhl angewiesen sein werden würde. Doch der Druck und die Erwartungen von meinem Noch-Ehemann sowie dem Eheschutzrichter waren so hoch, dass ich mich aus finanziellen Gründen gezwungen sah, weit(erhin) über meine Grenzen hinaus zu gehen. Diese ständige Überforderung führte zu einer massiven Gereiztheit, die sowohl für mich als auch mein Umfeld beinahe unerträglich geworden ist. Und irgendwann war ich dann so erschöpft, dass ich mich freiwillig in einen stationären Klinikaufenthalt begeben hatte.

Auch nach drei weiteren Klinikaufenthalten sind meine Arme immer noch zu schwach, um mich längerfristig ohne Rollstuhl fortbewegen zu können. Ich weiss nicht, wann ich wieder genug Kraft habe, mich wieder längerfristig aus meinem unsichtbaren Rollstuhl zu erheben. Es ist jedoch klar, dass ich dies nur mit entsprechender Unterstützung schaffen werde. Und das sind Menschen, die mich und mein Gebrechen sehen und verstehen können.

>> weitere Beiträge zum Thema Lebensschule